OperaStreaming als kostenloses Angebot auf Weltklasseniveau
Wohlgemerkt: Bereits 2013 gebar er das Konzept, das mittlerweile bereits 1,1 Millionen Menschen weltweit erreicht hat, knapp 20.000 Freunde der Oper gehören zu den Abonnenten. Das Angebot war und ist nicht nur von Beginn an gratis, es hat auch so gar nichts zu tun mit den oftmals aus der Not geborenen Streamingansätzen, die während der pandemiebedingten Lockdowns eher wie Überlebungsrufe der Opernhäuser klangen, so als wollten sie sagen: „Seht her, es gibt uns noch. Und wir machen weiter Kunst, obwohl wir unsere Theatertüren fürs Publikum geschlossen halten müssen.“ OperaStreaming hingegen folgte von Beginn an einer anderen Motivation. Denn für das Projekt der Region Emilia-Romagna erhalten die beteiligten Opernhäuser über ihre das künstlerische Programm ermöglichenden Subventionen hinaus gesonderte Fördergelder, durch die sie ihre Arbeit international bekannt machen können. Damit ist OperaStreaming kein kurzfristig loderndes Strohfeuer, es folgt einer nachhaltigen Strategie: Es gilt schließlich, die Emilia-Romagna als Opernregion par excellence in den Köpfen der Interessierten zu verankern. Schließlich stammen nicht nur all die Sängerstars, zu denen auch der bedeutende Bariton Leo Nucci zählt, aus dem fruchtbaren nordostitalienischen Land, auch Giuseppe Verdi als bedeutendster italienischer Opernkomponist aller Zeiten wurde hier geboren und bekannte sich bis zuletzt dazu, ein einfacher Mann aus Roncole bei Parma zu sein.
Mit genauso unprätentiösem Understatement und gleichermaßen auf Weltklasseniveau professionell kommt nun auch OperaStreaming daher. Keiner der Beteiligten betet wohlfeiles Marketing-Sprech nach, selbst die Politik erwartet keine kurzfristigen Wunder an zusätzlichem Operntourismus. Hier stimmt einfach der gesamte Ansatz, der aus einer Position der Stärke heraus entwickelt wurde, eben nicht aus der Erkenntnis von Defiziten. Selbst die berechtigte Kritik an den meist kostenlosen Streamings während der Pandemie, sie würden dem Publikum die Zahlungsbereitschaft für normale Opernkarten abgewöhnen, geht hier ins Leere. Denn die Menschen kommen ja weiterhin und (nach der Covid-Pause) wieder in „ihre“ Theater, die in der Emilia-Romagna längst viel mehr bieten als die Klassiker und Bestseller des 19. Jahrhunderts.
Sechs Live-Kameras und ein perfekt abgestimmes Trio
Bestes Beispiel dafür ist die Repertoire-Preziose in historischer Aufführungspraxis, die jetzt im Teatro Dante in Ravenna zu bestaunen war. Und – das ist die gute Nachricht – noch sechs Monate nach der Premiere weltweit zu besichtigen sein wird: dank OperaStreaming. Vivaldis „Tamerlano“, einst zur Karnevalssaison von 1735 in Verona uraufgeführt, wurde jetzt in der Stadt der Mosaiken möglich, da mit der Accademia Bizantina seinerseits ein Weltklasse-Spezialklangkörper just hier zu Hause ist. Sein Chef Ottavio Dantone dirigiert hier seinen Vivaldi. Eine famose, am Barockstil fein geschulte Sängerschar interpretiert ihn. Und eine durchaus gewagte Inszenierung sucht eines der grandiosesten Pasticcios der Operngeschichte, das Arienhit an Arienhit reiht, zu einem großen Ganzen zu runden, dessen Handlung dank der knapp bemessenen Rezitative nie so richtig klar werden will: ein bekanntes Barockopernproblem, das einem an diesem besonderen Wochenende nur kaum als Problem bewusst zu werden scheint. Zumal das journalistische Glück uns bei diesem Ausflug besonders hold ist: Wir dürfen die Premiere wie die anderen Besucher im Parkett genießen, die per Streaming gezeigte Folgevorstellung dann im Produktionsraum, einer großen Loge zwischen Bühne und Zuschauerraum, wo das Herz der Streaming-Produktion schlägt, ja: es pocht sogar. Hier laufen die sechs Kameras zusammen, die das Bühnengeschehen aus ganz verschiedenen Blickwinkeln verfolgen. Verblüffend sind die eher opernuntypischen, weil schnellen Schnitte, die dem heimischen Publikum den häufigen Perspektivwechsel ermöglichen: nicht nur zwischen Close-Up auf die Sängerdarsteller und Totale und dann auch mal im Wechsel mit der Kamera auf Maestro Dantone, sondern gerade in dieser Inszenierung auch zwischen Gesangssolisten und den diese doppelnden Tänzern, die den Affekthaushalt der Figuren in starker physischer Präsenz über die Rampe bringen.
Die sehr bewusste Auswahl aus den Live-Kameras (hier wird weder vorproduziert, noch gibt es die Fehlerkorrektur der Postproduction) entsteht durch das perfekt aufeinander abgestimmte Trio von Roveris Team, das technisch-mediale und musikwissenschaftliche Kompetenzen verbindet. Da die Streaming-Experten den Probenprozess der Inszenierung intensiv verfolgen und intensiv in deren Dramaturgie eingeweiht sind, haben sie vor dem Live-Stream ein penibles Skript ausgearbeitet, das die szenischen Aktionen festhält und die Kameraeinstellungen entsprechend vorausplant. Für die besondere Feinjustierung während der Vorstellung liest eine Kollegin zusätzlich auch den Klavierauszug mit. Letztlich entschieden, welche Kamera jeweils den Zuschlag erhält, wird aber aus dem Moment heraus. So entsteht im Ergebnis die ideale Dialektik aus der Spontaneität der Live-Aufführung und der sekundengenau getimten filmischen „Meta-Inszenierung“ oder „Meta-Show“, von der Alessandro Roveri begeistert spricht. Sogar Untertitel gehören bei OperaStreaming zum Service, demnächst sogar wahlweise in verschiedenen Sprachen.
Es gelingt im italienischen Norden somit etwas ganz anderes – und deutlich mehr – als nur verfilmte Oper: OperaStreaming kreiert ein eigenes medial vermitteltes Opernkunstwerk, in dem die direkte Kommunikation mit dem europäischen, aber vermehrt auch amerikanischen und asiatischen Publikum einen lebendigen Meinungsaustausch mit sich bringt. Alessandro Roveri selbst ist während der Übertragung via Sozialer Medien mit den Zuschauern in Kontakt und moderiert die Kommentare direkt über die Youtube-Plattform, die einen so angenehm einfachen Zugang zur Gattung Oper schafft – nicht als Ersatz für das unmittelbare emotionale Erlebnis im Saal und doch mit enormem und echtem Mehrwert.
Aufmacherbild: © Zani Casadio