Die 475 Jahre der Sächsischen Staatskapelle Dresden sind von Beginn an bestens dokumentiert. Nicht nur dem Kurfürsten Moritz von Sachsen als Initiator war die Hofkapelle eine Herzensangelegenheit: Unter Johann Georg I. läutete Heinrich Schütz eine barocke Blütezeit ein, die in Dresden ihre Vervollkommnung unter August dem Starken fand, dessen aufwändige Bauprojekte als „Dresdner Barock“ in die Kunstgeschichte eingingen. In dieser Zeit trug der Komponist und Dresdner Konzertmeister Johann Georg Pisendel vierzig Jahre lang für die sächsische Hofkapelle ein gigantisches Notenarchiv zusammen, gesammelt im berühmten „Schranck No: II“: die erste großformatige Dokumentensammlung des Orchesters. Die zweite große Dokumentensammlung besteht nicht aus Papier, sondern aus Tönen: 1923, vor hundert Jahren, wurde im prächtigen Palast-Hotel Weber die erste Schallplattenproduktion unter dem Namen „Kapelle der Staatsoper Dresden“ realisiert. Unter der Leitung von Generalmusikdirektor Fritz Busch erklang das G-Dur-Menuett aus der Orchestersuite „Der Bürger als Edelmann“ von Richard Strauss – der perfekte Startschuss, bedenkt man, dass das Orchester und Strauss als sein inoffizieller „Capell-Compositeur“ eine so leidenschaftliche wie legendäre musikalische Liaison miteinander pflegten. Drei Jahre später schuf Fritz Busch mit der Ouvertüre zu Verdis „La forza del destino“, aufgenommen am selben Ort, ein klingendes Zeugnis seiner exzellenten Expertise für die italienische Oper. Dass er der Musik von Richard Wagner kaum minder verbunden war, hat er mit dessen „Tannhäuser“-Ouvertüre unter Beweis gestellt, die 1932 für den Kinofilm „Fritz Busch dirigiert die Staatskapelle Dresden“ im Opernhaus entstand.

Umarmt seit 475 Jahren musikalisch die Welt: die Sächsische Staatskapelle Dresden © Markenfotografie
Umarmt seit 475 Jahren musikalisch die Welt: die Sächsische Staatskapelle Dresden © Markenfotografie

Preziosen aus 100 Jahre Tonaufnahmen der Sächsischen Staatskapelle Dresden

Diese drei Preziosen finden sich am Anfang der 10-CD-Box, die als Teil der doppelten Jubiläumsfeierlichkeiten (475 Jahre Staatskapelle und 100 Jahre Tonaufnahmen des Orchesters) stehen. Strauss selbst ist auf der Sammlung nicht nur als Komponist, sondern auch als Dirigent seiner sinfonischen Dichtung „Don Quixote“ zu erleben – eine Aufzeichnung der BBC, die 1936 bei einem Gastspiel in der Londoner Queen’s Hall mittels eines Rundfunk-Plattenschneiders auf neunzehn erwärmte Wachsplatten erfolgte. Zu dieser Zeit griff man noch zu ungewöhnlichen Maßnahmen, um mit der damaligen Aufnahmetechnik bestmögliche Ergebnisse zu erzielen. So wurde etwa für Studioaufnahmen die sogenannte Strohgeige erfunden, die zwar keinen Korpus, aber dafür eine Art Trompetenrohr aufwies. Auch als sich die Aufnahme mittels Tonband durchsetzte, erwies sich die Staatskapelle auf der Höhe der Zeit. So zeigte sich Steffen Lieberwirth als Spiritus Rector von „Edition Staatskapelle“ und „Semperoper Edition“ (unter diesen Namen werden Aufnahmen beim Musiklabel Hänssler Classic verlegt) äußerst überrascht über die früheste ihm bekannte Opernaufnahme mittels Magnetband von 1942 aus der Semperoper mit Karl Böhm am Pult. Als Lieberwirth die Aufnahme Technikern vorspielte, hielten diese den Mitschnitt für eine Aufnahme aus den sechziger Jahren.

Zwanzig Dirigenten sind auf der CD-Box vereint, darunter Joseph Keilberth, Otmar Suitner, Kurt Sanderling, Herbert Blomstedt, Giuseppe Sinopoli, Bernard Haitink und Fabio Luisi – Musiker, die untrennbar mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden verbunden sind und zugleich in der ersten Dirigentenriege des 20. und 21. Jahrhunderts stehen. Den krönenden Abschluss auf den zehn CDs bildet natürlich Christian Thielemann, der nach zwölf für Dirigent und Orchester gleichermaßen beflügelnden Jahren den Stab des Dresdner Kapellmeisters niederlegt. Neben zahlreichen gefeierten Sinfoniekonzerten in Dresden sowie auf weltweiten Gastspielen sind mit Thielemanns Wirken auch herausragende Opernaufführungen insbesondere von Richard Wagner und Richard Strauss verbunden. Auch davon legt die CD-Box Zeugnis ab, deren Aufzeichnungen nicht nur für sich stehen, sondern stets mit detaillierten Angaben zur Technik versehen wurden.

Zwölf Jahre hielt Christian Thielemann den Stab des Dresdner Kapellmeisters in der Hand © Markenfotografie
Zwölf Jahre hielt Christian Thielemann den Stab des Dresdner Kapellmeisters in der Hand © Markenfotografie

Jubiläumsband beleuchtet intensiv die Orchestergeschichte

Die klingenden Dokumente decken übrigens einen deutlich größeren Abschnitt der Geschichte der Staatskapelle ab als man vermuten mag, nämlich mehr als ein Fünftel. Diese Epoche beleuchtet auch eine umfangreiche Publikation, die ein Jahrhundert wissenschaftlich aufarbeitet, in dem Glanz und Schatten aufeinandertreffen: Technologischer Fortschritt und politische Umbrüche, staatliche Instrumentalisierung und ein massiver Ausbau der internationalen Tourneetätigkeit. Der Jubiläumsband „Goldglanz und Schattenwürfe“ (256 Seiten, 39,80 Euro, Verlag Klaus-Jürgen Kamprad) setzt sich auch erstmals mit der Orchestergeschichte im Nationalsozialismus und in der DDR auseinander.

Und wie geht es nun weiter mit Staatskapelle? Um es kurz zu fassen: glanzvoll! Mit Beginn der kommenden Spielzeit wird Daniele Gatti als Chefdirigent an der Spitze des Orchesters stehen. Als regelmäßiger Gast ist er dem Klangkörper längst bestens vertraut. In der langen Orchestergeschichte wird er der dreizehnte Italiener in einer Chefposition sein – womit die Staatskapelle sich gewissermaßen auf ihre Anfänge zurückbesinnt: Schon 21 Jahre nach der Gründung trat 1517 Antonio Scandello sein Amt als Kapellmeister an. Ihm folgten zahlreiche Landsmänner als Kapellmeister nach Dresden, so dass in der sächsischen Hauptstadt die italienische Musikkultur lange Jahre blühte und im Schaffen von „il divino Sassone“ Johann Adolph Hasse als Meister der Oper im italienischen Stil kulminierte. Und am Ende sind es zwei Konstanten, die sich durch die 475-jährige Geschichte der Sächsischen Staatskapelle Dresden ziehen: das Bekenntnis zur Pflege der hiesigen Musikkultur – und die musikalische Umarmung der Welt.

Aufmacherbild: © Matthias Creutziger