Das Segment einer Kuppel scheint auf die Bühne gestürzt zu sein. Diesen Eindruck erweckt das beachtliche Bühnenbild in „Ritus“, dem Tanz- und Musiktheater von Stefano Giannetti zur „Petite Messe solennelle“ von Gioacchino Rossini. Am ehesten erinnert das kompakte architektonische Bruchstück an das Pantheon in Rom, jenes fast 2000 Jahre alte Bauwerk, in dem seinerzeit mehrere antike Gottheiten verehrt wurden und das (vermutlich) sowohl sakrale als auch säkulare Feiern beherbergte. Das entspricht genau jenem Grundgedanken, der Stefano Giannetti zu seinem jüngsten Werk motivierte: ein „Zusammenkommen von Menschen“, egal welcher Religionszugehörigkeit, die gemeinsam das Leben feiern. Der enorme Erfolg von „Ritus“ bei Publikum und Presse gibt dem Chefchoreografen und Ballettdirektor des Anhaltischen Theaters in Dessau recht: Wir brauchen diese Zusammenkünfte – gemeinsame Rituale, die uns einander näher bringen – vielleicht heute mehr denn je.

Stefano Giannetti hat Erfahrung auf dem Gebiet, geistliche Kompositionen um eine tänzerische Ebene zu bereichern. Mitte der achtziger Jahre gehörte er zwei Spielzeiten lang zum Hamburg Ballett und tanzte in John Neumeiers legendärer „Matthäus-Passion“. Als Choreograf gestaltete er während seines Engagements in Kaiserslautern Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ als spartenübergreifendes Projekt. Als ein solches ist „Ritus“ nun die folgerichtige Weiterentwicklung: Im Bühnenraum interagieren der dreißigköpfige Opernchor und die vier Gesangsolisten mit zehn TänzerInnen sowie den beiden Musikern, einem Pianisten und der Harmoniumspielerin Arang Park.

Trauer, Hoffnung oder Trost: „Ritus“ zeigt emotionale Momentaufnahmen
Trauer, Hoffnung oder Trost: „Ritus“ zeigt emotionale Momentaufnahmen

Giannettis choreografischem und inszenatorischem Geschick ist es zu verdanken, dass sich sämtliche Agierende gegenseitig beflügeln und in ihren Ausdrucksmöglichkeiten ergänzen. Eine besondere Rolle übernimmt in diesem Zusammenhang die Puppen- und Schauspielerin Kerstin Dathe: Sie fungiert in der Gestalt eines Engels als göttliche Arrangeurin und vermittelt in einem berührenden Moment beispielsweise die Begegnung zwischen einem Tänzer und dem Pianisten Alexander Koryakin. Szenen dieser Art prägen den gesamten rund neunzigminütigen Abend. Es wird keine durchgehende Handlung erzählt, stattdessen reihen sich beredte Momentaufnahmen aneinander, die jede für sich stehen: Manchmal erinnert eine Konstellation an das Motiv der Pietà, dann wieder an eine sich versammelnde Schar von Jüngern, mitunter auch an Handlungen innerhalb eines Gottesdiensts – und entsprechend vermitteln sich unterschiedliche Stimmungen und Emotionen wie Trauer, Hoffnung oder Trost. Um eine sinnfällige Situation zu kreieren, braucht es nicht viel; in dieser Frage ist der Choreograf mit seinem berühmten Vorbild George Balanchine einer Meinung, der behauptete, man brauche nur zwei Menschen auf die Bühne zu stellen – schon habe man eine Geschichte.

Als gebürtiger Römer ist Giannetti mit der Musik seines Landsmanns Rossini aufgewachsen. Sich selbst nennt er einen Fan des Komponisten, zu dessen Werke er schon mehrfach Choreografien schuf. Berühmt und erfolgreich war Rossini schon zu Lebzeiten, insbesondere im Genre der Opera buffa. Seine „Petite Messe solennelle“ hat indes eine besondere Entstehungsgeschichte: 34 Jahre nachdem er seine letzte Oper komponiert hatte, schrieb er die „kleine feierliche Messe“ als Auftragswerk für einen Freund. Der Graf Alexis Pillet-Will und dessen Frau Louise (der die Komposition auch gewidmet ist) baten Rossini um eine Messe, mit der sie ihre private Kapelle einweihen konnten. Die Uraufführung seiner Alterssünde – wie Rossini das Ergebnis nannte – fand am 14. März 1864 in Paris statt. Chor und Solisten nicht von einem Orchester, sondern nur von Klavier und Harmonium begleiten zu lassen, war seinerzeit ungewöhnlich.

Tanz- und Musiktheater vereinen sich zur Musik Rossinis
Tanz- und Musiktheater vereinen sich zur Musik Rossinis

Während der ersten Takte, noch bevor der Chor einsetzt, marschieren die Töne geradezu frech los und evozieren schnelle Bewegungen im Raum. Das Eröffnungsbild überrascht dann mit dem Aufgebot von sämtlichen Mitwirkenden, alle in Weiß gekleidet, inklusive des Dirigenten Sebastian Kennerknecht in einer Vertiefung der Bühne. Immer wieder korrespondieren im Laufe der Aufführung die sinnlichen und spielerischen Qualitäten der Musik, die zum Tanzen aufzufordern scheinen, mit den ausgewählten Bewegungsmotiven. Am Ende des „Ritus“ finden sich zwei Gesangssolisten nah beieinander, gleichsam zurückgelassen. Ob in einer Kirche, Moschee oder Synagoge – seit Jahrtausenden finden sich Menschen zu Ritualen an besonderen Orten zusammen, um in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein. Auch Theater sind solche Orte.

Trailer zu „Ritus“ am Anhaltischen Theater Dessau:

Aufmacherbild: © Hartmut Bösener