Am Anfang stand das Dorf. Und zwar nicht irgendeines, sondern Cannalonga in Kampanien. Gut 1.060 Einwohner zählt es heute. Als eines der ältesten Musikfestivals der Geschichte hier seinen Auftakt hatte, das noch heute veranstaltete wird, dürften es deutlich weniger gewesen sein. Das Fiera della Frecagnola, ursprünglich Fiera du Santa Lucia, startete am zweiten Samstag im September anno 1450 und während über etwaige Dresscodes wenig bekannt ist, so wissen wir wenigstens, was zwischen Gesängen und Instrumentalsätzen serviert wurde: bollito di capra, gekochtes Ziegenfleisch in Gemüsebrühe. So rustikal und herzhaft kann man sich wahrscheinlich auch die Garderobe der Besucher vorstellen. Viel Leinen, Hanfgewebe, Spitzenhäubchen, derbes Schuhwerk. Man kam vom Feld direkt vor die Bühne.

Publikum beim Klassik Opern Air Nürnberg
Publikum beim Klassik Opern Air Nürnberg © Uwe Niklas

Ganz anders dürfte es auf dem Gelände des Highland Park im US-Staat Illinois zugegangen sein, wo seit 1905 das älteste Outdoor-Klassikspektakel Nordamerikas stattfindet. Von Juni bis September, auf einer Fläche von 150.000 Quadratmetern. Über 600.000 Besucher lauschen dort Jahr für Jahr einem bunten Reigen aus bis zu 150 Programmpunkten, vom klassischem Konzert über Jazz-Matinee bis zum Musical. Und dank einer langen Liste illustrer Namen – Renée Fleming, Joan Baez, Louis Armstrong, Burt Bacharach, Montserrat Caballé, Ella Fitzgerald, Elvis Costello, George Gershwin, Willie Nelson und B.B. King – gibt es wohl kaum einen Open-Air-Ort, an dem sich über Wochen die Gäste so abwechslungsreich ausstaffieren.

Herausgeputzte Pärchen auf Picknickdecken

Gummistiefel müssen es aber auch nicht gleich sein, flache Sohlen sind empfohlen. Viele englische Festivals auf Landsitzen oder in üppigen Parkanlagen schreiben auch am helllichten Tag und im Grünen Abendgarderobe vor, so als betrete man die Scala. Aus Respekt vor den Künstlern, schreiben die Veranstalter meist dazu. Und, zugegeben, es ist ein ansprechendes Bild, herausgeputzte Pärchen auf Klappstühlen oder Picknickdecken zu sehen.

Herren-Outfit: Schuhe, Fliege und Sonnenbrille
Herren-Outfit: Schuhe, Fliege und Sonnenbrille © shutterstock

Wobei eine feine (!) Jeans, dunkel, ohne klaffende Löcher am Knie oder anderswo und gern in dunklem, rohen Denim zum Doppelreiher, Hemd und Fliege sowie hellbraunen Double Monks oder Brogues mit Gummi- oder gar Profilsohle (es gibt ja alles heute) das Praktische mit dem Attraktiven vereinen. Auch wer sich für Black Tie im Smoking entscheidet, kann die Draußen-Tauglichkeit mit einer Kautschukprofilsohle oder peppigen Galoschen von Swims absichern.

Auf das Selbstvertrauen kommt es an

Zuhörer beim Klassik Opern Air Nürnberg
Zuhörer beim Klassik Opern Air Nürnberg © Uwe Niklas

Das wichtigste Accessoire neben Einstecktuch, Hut, Schirm (!) oder Ansteckblume oder -puschel ist ohnehin eine spürbare Portion Selbstvertrauen und die Selbstverständlichkeit, mit der Mann und Frau ihre Outfits aufs Klassik-Feld tragen. Egal ob auf einem Gut in Schleswig-Holstein beim SHMF, in Glastonbury oder im Central Park. Dort übrigens sang 1850 die „schwedische Nachtigall“ Jenny Lind auf Einladung von Zirkus-Mogul P.T. Barnum im Rahmen ihrer ersten Tour durch die Neue Welt. Begleitet von Militärkapellen.

Die Mode der geladenen feinen New Yorker Gesellschaft hielt es damals mit viktorianischer Sommer-Eleganz, also Dinnerjackets für die Herren, dazu eine Fedora und voluminöse Kopfputze à la Ascot bei den Damen, dazu aufwändige Kleider mit reichlich Rüschen, schöner Spitze und raffinierten Unterrock-Lagen. 1918 gab der italienische Tenor Enrico Caruso vor 50.000 Besuchern seine Version des patriotischen Gassenhauers „Over There“ zum Besten, man befand sich schließlich im Ersten Weltkrieg. Dementsprechend standen viele Uniformträger im Publikum.

Wenn Sissi auf Bette Davis trifft

Aus späteren Jahren gibt es Fotos, auf denen sich die Abgebildeten vor dem Kleiderschrank nicht recht entscheiden konnten – die Herren zwischen Charlie Chaplin und Nick Knatterton (Melone und Karos) und die Damen schwankten zwischen Sissi und Bette Davis in „Whatever happened to Baby Jane“. Weit weniger clownesk wurde es in Manhattans grüner Lunge, als etwa 1966 die New Yorker Philharmoniker unter Leonard Bernstein aufspielten, letztere gewandet wie ein Bandleader in Vegas mit weißem Jackett und Fliege und reichlich Energie im Taktstock. Stolze 75.0000 Menschen hörten zu, als das Orchester Beethovens dritte Symphonie erklingen ließ.

Frau mit Sommerkleid und Schuhen auf der Wiese
Frau mit Sommerkleid und Schuhen © shutterstock

Black Tie und Abendkleid stand damals auf den Einladungskarten, wie auch heute bei den Bayreuther Festspielen, wobei man gut die Hälfte der Gäste eher in Business Casual sieht als im eigentlich vorgeschriebenen Smoking. Mit Schirm, Charme und Zylinder, so will als Mode-Motto einfach nicht mehr so recht in unsere Zeit und unseren hektischen und zugleich bequeme(re)n Lifestyle passen. Vielleicht ist daran der Athleisure-Trend schuld, der Anzügen dank elastischer High-Tech-Garnen mehr Bewegungsfreiheit schenkt und gar Jogginghosen als Kombination empfiehlt.

Paillettenroben versus Jeans-Blazer-Paarungen

Ein britischer Autor schrieb vor einiger Zeit ebenfalls über Garderobe und Etikette bei Klassik-Events unter freiem Himmel. Er erlebte mit Frau und zwei Töchtern einen regelrechten Krieg der Kulturen: Paillettenroben versus Jeans-Blazer-Paarungen und feinzwirniger Altherren-Glamour gegen eine locker-maskuline Art des „Aufrüschens“ ohne Schulterpolster und Satinstreifen. Dafür mit ebenso viel Spaß an Arie und Adagio.

Der Autor ging noch weiter. Er verwies darauf, dass Komponisten das „rohe Leben in Melodien kleideten“: die Leidenschaft ebenso wie die Trauer, die Höhen, Tiefen, die Millionen Gedanken, die durch unser aller Gehirne zischen. Es sei Zeit, die klassische Musik aus ihrem Elfenbeinturm zu rütteln, wieder zur klugen Volksmusik zu machen. Dargeboten in Locations, wo man klatschen dürfe, Kinder kreischen, eine Jeans ebenso okay ist wie ein Trägertop oder ein Blaumann. Last but not least, kündigte er an, ein eigenes Festival auf dem Feld zu starten, das jeden willkommen heiße.

Es geht um mehr als Mode

Quasi ganz im Sinne des deutschen Dichters Berthold Auerbach, der einmal notierte: „Musik wäscht die Seele vom Staub des Alltags rein“. Diese Magie zu feiern, darf einfach keine Frage der Fashion sein.

Besucher beim SOLsberg Festival
Besucher beim SOLsberg Festival © Thomas Entzeroth

Sich selbst, sein wahres Ich mitzubringen muss genügen. Und eigentlich nicht mal das. Denn das findet jeder ohnehin ein Stück weit in der Musik (wieder). Egal ob auf der Wartburg in Eisenach, in Aspen oder Montreux. Genuss übertrumpft Styling!

 

Aufmacherbild: © Leigh Simpson