Eine fremde Welt namens Musik

Gebärdensprache
Was wäre das Leben ohne Töne und Klänge! Sie kommen in vielen unterschiedlichen Formen daher, können ebenso schön wie beruhigend, nervend oder fordernd sein. Ob nun der Straßenlärm, die Kaufhausbeschallung, das freudige Lachen von Kindern oder die Musik von Beethoven, Bach, Mozart und Co. Eine Welt ohne Klänge ist kaum vorstellbar – zumindest für alle, die hören können. Aber was ist mit gehörlosen Menschen und Musik? Brauchen sie sie? Haben sie gar ein Recht darauf?

Wenn man es frei nach dem Volksmund „Was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen“ nimmt, dürfte die Diskussion an dieser Stelle beendet sein. So einfach ist es dann aber doch nicht. Denn auch wenn man etwas nicht vermisst, weil man es nicht kennt, kann man sich dennoch danach sehnen. Immerhin übt Musik auf hörende Menschen größtenteils eine besondere Faszination aus – da ist es nur logisch, dass sich Gehörlose fragen, was das Besondere daran ist. Hinzu kommt, dass es viele Menschen gibt, die nicht von Geburt an gehörlos sind, sondern die erst im Laufe ihres Lebens ertauben und daher sehr wohl wissen, wie Musik klingt – und sich danach sehnen.

Über das Dolmetschen von Musik

Die gute Nachricht: Auch für gehörlose Menschen gibt es durchaus Mittel und Wege, Musik für sich erfahr- und erlebbar zu machen. Ein Klang wird zwar hauptsächlich durch das Hören wahrgenommen, aber eben nicht nur. Laura M. Schwengber, die in Deutschland seit Jahren die erste Wahl ist, wenn es darum geht, Musik für Taube zu dolmetschen, vertritt genau diese Meinung – nämlich dass man Musik mit allen Sinnen erfahren kann: Die Bewegungen des Orchesters, des Dirigenten, die unmittelbaren Reaktionen des Publikums spielen eine ebenso große Rolle wie die Konzertatmosphäre an sich oder die Klangvibrationen, die man spüren kann. Oder eben das, was man von der Gebärdendolmetscherin vermittelt bekommt. Wie man sich das vorstellen muss? Grundsätzlich dolmetscht Laura Schwengber Liedtexte – was vor allem bei Popkonzerten wichtig ist.

Laura Schwengber
Laura Schwengber © Barbara Maria Landsee

Hinzu kommen dann noch Tanzbewegungen sowie emotionale Gesten, die die Musik an sich interpretieren. Alles, was Schwengber dafür braucht, ist ein Quadratmeter auf der Bühne – und bei Instrumentalkonzerten ein paar Zusatzinformationen. In diesen Fällen spricht sie auch nicht vom Dolmetschen, sondern von vorbereiteten Übersetzungen: „Gerade wenn es reine Instrumentalstücke sind, interessiert mich die Entstehungsgeschichte ebenso wie die Herangehensweise des Dirigenten, damit ich einen Ansatzpunkt für meine Übersetzung habe. Natürlich entstehen einige Sachen auch spontan bei einem Konzert, aber bei klassischer Musik ist Vorbereitung schon sehr wichtig.“

Wenn die Hände „mitsingen“

Auch wenn Schwengber musikalisch breit aufgestellt ist und Klassik ebenso übersetzen kann wie Popmusik, stößt sie manchmal an ihre Grenzen. Unlängst lehnte sie etwa einen Dolmetscherauftrag ab: Ein Rapper wollte sie für eins seiner Konzerte buchen. „So viele Kraftausdrücke, wie da in den Texten verwendet wurden, kenne ich in Gebärdensprache gar nicht – und will ich auch gar nicht kennen.“

Schwengber ist sich bewusst, dass sie durch ihre Tätigkeit zwar taube Menschen in die Welt der Hörenden integrieren kann und dass im besten Fall dann sogar ein Austausch über das gemeinsame Erlebnis entsteht, aber sie weiß auch, dass sie nur einige Aspekte der Musik – den Rhythmus und die Emotionalität – nahbar machen kann. Der Klang an sich bleibt einem gehörlosen Publikum verwehrt. Trotzdem freut sie sich, wenn sie zum Beispiel „Peter und der Wolf“ übersetzt und mitbekommt, dass die tauben Kinder im Saal mit ihren Händen „mitsingen“. Für sie ist das ein Zeichen, dass Musik auch ohne Klang einen Menschen erreichen kann. Nur eben anders als bei Hörenden.

Nun ist es natürlich weder leistbar noch lohnend, jedes einzelne Klassikkonzert mit einem Gebärdendolmetscher zu besetzen. Fernab dieser Art der Musikvermittlung gibt es aber technische Hilfsmöglichkeiten für Gehörlose. So haben die Jungen Symphoniker Hamburg zum Beispiel in Zusammenarbeit mit der Werbeagentur Jung von Matt unter dem Slogan „Music should be for everyone“ das sogenannte Sound Shirt von der Designagentur Cute Curcuit innerhalb von nur sechs Monaten entwickeln lassen.

Orchestervibrationen am Oberkörper

Die Funktion des Sound Shirts ist ebenso einfach wie wirkungsvoll: Mikrofone, die über die ganze Konzertbühne verteilt sind, zeichnen die gespielten Töne auf, eine Software wiederum wandelt diese Töne in Daten um, die dann an sechzehn Feinmotoren, die in dem hautengen Shirt, das optisch an das Oberteil eines Neoprenanzugs erinnert, eingearbeitet sind, gesendet werden. Die verschiedenen Bereiche des Shirts werden dann in Vibration versetzt: Auf den Oberarmen kann man beispielsweise die Geigen fühlen, der linke Unterarm ist für die Bratschen reserviert und die Bläser laufen einem sprichwörtlich den Rücken herunter – wobei sich die Vibrationsintensität immer auch der jeweiligen Lautstärke anpasst.

Zusätzlich zu den Feinmotoren, die für das Fühlen der Musik sorgen, sind an dem Sound Shirt auch noch Leuchtdioden angebracht, die, passend zum Rhythmus der Musik, aufblinken. Das ist allerdings nur eine kleine optische Spielerei, die keine weitere Funktion hat.Das Sound Shirt wurde übrigens entwickelt, ohne dass zuvor oder währenddessen die Meinung von Gehörlosen eingeholt wurde. Im Praxistest zeigten sich trotzdem viele taube Menschen sehr begeistert. Nur bei besonders sensitiven Tauben kann es vorkommen, dass vor allem laute Passagen, die vom kompletten Orchester gespielt werden, ein zaghaftes Unwohlsein in Form leichter Übelkeit auftreten kann, da zuviele Oberkörperregionen auf einmal angesprochen werden – was aber tatsächlich die Ausnahme bildet.

Auch Gehörlose haben ein Recht auf Musik

Gebärdenchor beim "Day of Song" 2010
Gebärdenchor beim „Day of Song“ 2010 © Udo Geisler/ruhr2010

Ob nun Gebärdendolmetscher wie Laura Schwengber oder technische Hilfsmittel wie eben das Sound Shirt – das Klangerlebnis an sich und damit auch die Emotionen, die durch das Hören von Musik ausgelöst werden können, bleiben gehörlosen Menschen verwehrt. Sie können sich nur weiter danach sehnen oder daran erinnern, wenn sie erst im Laufe ihre Lebens ertaubt sind. Aber um einen höchst eigenen Zugang zur Musik zu bekommen und auch, um von hörenden Menschen nicht isoliert, sondern Teil der Klassikgemeinschaft zu bleiben oder zu werden, ist gedolmetschte Musik ein ebenso probates und integratives Mittel wie technische Errungenschaften à la Sound Shirt.

 

Aufmacherbild: © shutterstock