Ort des Geschehens ist der Stuhrer Ratssaal im Jahr 1991. Auf der Bühne ein Tenor und sein Klavierbegleiter. Soweit schien alles der Norm eines Liederabends zu entsprechen. Neue Musik war angekündigt. Was dann aber folgte, war keinem der Zuschauer im Saal bis zu jenem Tag untergekommen. Ihren Gesichtern war die Überforderung mit dem vorgetragenen Werk merklich anzusehen, trotzdem folgte zurückhaltender Applaus. Was niemand zu dem Zeitpunkt im Publikum ahnte: Sie alle waren soeben gehörig auf den Arm genommen worden. Vor ihnen auf der Bühne stand Hape Kerkeling, der sich als polnischer Tenor ausgab und soeben sein inzwischen in die TV-Geschichte eingegangenes Stück „HUUURZ!“ vorgetragen hatte.

Was Kerkeling an jenem Tag parodistisch auf die Spitze trieb, hat seinen Ursprung in zahlreichen musikalischen Experimenten und Werken, die die Musikgeschichte und ihre tonschöpfenden Vertreter in ihrer Entwicklung hervorgebracht haben. Stücke, die scheinbar ungewöhnlich besetzt oder komponiert anmuten, oftmals gar geschrieben für Gegenstände, deren ursprüngliche Bestimmungen weit weg von jeglicher Form der Tonerzeugung lagen – jedoch von einer interessierten Zuhörerschaft als Musik der Avantgarde angenommen wurden. Konservative Klassikliebhaber fühlten sich nach Kerkelings Auftritt bestätigt: Jene Befürworter dieser neuen Klänge mussten einfach irren! Doch Vorsicht ist geboten.

Notenblatt
Auch klassische Werke bieten die Möglichkeit, Ungewöhnliches zu entdecken. © Pixabay/gemeinfrei

Nicht nur die Neue Musik oder die musikalische Avantgarde als Teil dieser Strömung hat scheinbar Kurioses hervorgebracht, gab es doch in jeder Epoche für damalige Zeiten höchst ungewöhnliche Besetzungen oder fortschrittliche Neuerungen, etwa mit Beethovens neunter Sinfonie, deren Besetzung mit vier Gesangsolisten und Chor im Finale die Zeitgenossen vor bisher ungeahnte Hörerlebnisse stellte. Von Klavierkonzerten für nur eine Hand, wie es durch Maurice Ravel in die Musikgeschichte einging, bis hin zu Werken wie Karlheinz Stockhausens „Helikopter-Streichquartett“, das nicht nur vier Musiker, sondern auch vier Hubschrauber samt Piloten und Tontechniker in der Besetzungsliste vorsieht, bietet die ernste Musik in all ihren Entwicklungsstufen mannigfaltige Möglichkeiten, Ungewöhnliches zu entdecken: populär gewordene Stücke wie John Cages berühmtes Avantgarde-Werk „4’33“, besetzt für Klavier solo, bei dem kein einziger Ton erklingt, oder György Ligetis 1962 komponiertes „Poème symphonique“ für hundert mechanische Metronome.

Auch für hartnäckige Gegner der musikalischen Avantgarde reicht manchmal schon ein Blick in das etablierte Repertoire, um Überraschendes zu entdecken, was heute einfach als gegeben hingenommen wird. Freunde der Kammermusik haben es da besonders einfach, bricht beispielsweise schon ein Franz Schubert mit seinem „Forellenquintett“ mit der traditionellen Klavierquintettbesetzung, indem er mit nur einer Violine auskommt und statt der zweiten Geige einen Kontrabass hinzuzieht. Oder der russische Komponist Anton Arensky, der mit der Tradition des klassischen Streichquartetts brach, indem er sein zweites Quartett für eine Violine, eine Viola und zwei Celli setzte. Wenn also der unaufgeschlossene Klassikhörer im nächsten Konzert bei zeitgenössischen Werken leise ein „früher war alles besser“ in seinen Bart murmelt, korrigiere man ihn entweder mit einem „nicht besser, sondern anders“ oder man bekräftige ihn schlicht mit einem lauten „HUUURZ!

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