Tatsächlich besitzt die Bundeshauptstadt etwas, worum viele andere Städte sie beneiden dürften: zwei Rundfunkorchester und zwei Rundfunkchöre. Die Geschichte der lange geteilten Stadt Berlin hat sie hervorgebracht. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) wurde am 29. Oktober 1923 mit der Geburtsstunde des öffentlichen Rundfunks in Deutschland gegründet und hat in den letzten hundert Jahren mit namhaften Komponisten zusammengearbeitet. Sergei Prokofjew, Richard Strauss, Arnold Schönberg, Igor Strawinsky und Kurt Weill haben hier ebenso ihre eigenen Werke dirigiert wie in jüngerer Zeit Krzysztof Penderecki, Peter Ruzicka, Jörg Widmann und Thomas Adès. Chefdirigenten wie Eugen Jochum, Sergiu Celibidache, Rafael Frühbeck de Burgos, Marek Janowski und aktuell Vladimir Jurowski haben den Klang des Orchesters maßgeblich geprägt.
Nur zwei Jahre jünger als das RSB ist der Rundfunkchor Berlin, der ebenfalls zur ROC-Familie gehört, seit der Saison 2015/16 von dem Niederländer Gijs Leenaars geleitet wird und bereits mit drei Grammy Awards ausgezeichnet wurde. Internationales Renommee erlangten die 64 Sängerinnen und Sänger nicht nur durch ihr flexibles, nuanciertes Klangbild, sondern auch durch ihre interdisziplinären Projekte, mit denen sie klassische Konzertformate aufbrechen und Chormusik neu erlebbar machen wie etwa die szenische Umsetzung des Brahms-Requiems als „human requiem“ durch Jochen Sandig und ein Team von Sasha Waltz & Guests im Jahr 2012 oder fünf Jahre später Robert Wilsons Konzertperformance „Luther dancing with the gods“.
Der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ist es zu verdanken, dass Berlin heute noch zwei weitere Radioklangkörper aufweisen kann. Mit Gründung des „Rundfunk im amerikanischen Sektor“ (RIAS) durch die US-amerikanische Militärverwaltung entstand 1946 das RIAS-Symphonie-Orchester, das ab 1956 Radio-Symphonie-Orchester hieß und heute unter dem Namen Deutsches Symphonie-Orchester (DSO) firmiert. Zwei Jahre später gab der RIAS Kammerchor sein erstes Konzert. Auch diese beiden Ensembles sind unter dem Dach der ROC vereint, die 1994 ins Leben gerufen wurde, um den Fortbestand der vier mit dem Rundfunk verbundenen Ensembles zu sichern. Gesellschafter des bundesweit größten Ensemble-Verbunds sind neben der Bundesrepublik Deutschland (35 %) und der Stadt Berlin (20 %) Deutschlandradio (40 %) und der Rundfunk Berlin-Brandenburg (5 %).
Das DSO wurde zunächst von Ferenc Fricsay, später von Riccardo Chailly und weiteren namhaften Dirigenten geleitet. Unter seinem achten Chefdirigenten Robin Ticciati bewegt sich das Orchester heute nahe an den Menschen und am Puls der Zeit, greift gesellschaftspolitische Debatten auf und erschließt neue Publikumsschichten mit genreübergreifenden Projekten und ungewöhnlichen Musikvermittlungsformaten. Der 2014 erstmals realisierte „Symphonic Mob“, bei dem Laien und Profis gemeinsam musizieren, entwickelte sich zu einem europaweit kopierten Erfolgsmodell.
Auch der RIAS Kammerchor mit seinen 32 Sängerinnen und Sängern schwimmt dank seines homogenen, schlanken und höchst transparenten Klangbilds seit über 75 Jahren auf der Erfolgswelle. Chefdirigent Uwe Gronostay hob den Chor in den 1970er-Jahren auf ein herausragendes künstlerisches Niveau, unter seinem Nachfolger Marcus Creed avancierte er mit seinen Alte-Musik-Programmen zu einem vielbeachteten Vertreter der historischen Aufführungspraxis. 2010 vom britischen Magazin „Gramophone“ zu einem der zehn besten Berufschöre weltweit geadelt, hat sich der RIAS Kammerchor aber auch immer – dem öffentlichen Auftrag der Radioanstalten entsprechend – als Vermittler zeitgenössischer Werke verstanden und viele Ur- und deutsche Erstaufführungen gesungen.
Alle vier Ensembles pflegen aber auch Beziehungen untereinander und sind in gemeinsamen Konzerten zu erleben. So ist es schon eine Tradition, dass das Rundfunk-Sinfonieorchester und der Rundfunkchor alljährlich mit Beethovens neunter Sinfonie zum Silvesterkonzert ins Konzerthaus Berlin einladen, und auch mit dem RIAS Kammerchor steht das Orchester in der kommenden Saison wieder auf der Bühne. Das Deutsche Symphonie-Orchester wird indes am 3. November zusammen mit dem Rundfunkchor Aaron Zigmans Oratorium „Èmigré“ in einer europäischen Erstaufführung präsentieren und sich auch für Mahlers „Auferstehungssinfonie“, ein Programm von Brahms bis Schönberg sowie für Verdis Requiem mit den Chorsängerinnen und -sängern verbünden.
Zunächst aber wird das dreißigjährige Jubiläum der ROC im Rahmen des Musikfests Berlin von den Ensembles mit drei Konzerten in der Philharmonie und einem im Heimathafen Neukölln gebührend gefeiert. Das Deutsche Symphonie-Orchester hat am 6. September Kazuki Yamada, den Chefdirigenten des City of Birmingham Symphony Orchestra, und Tenor Julian Prégardien eingeladen: Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ werden gerahmt mit Werken von Tania León, Maurice Ravel, Charles Ives und Aaron Copland. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin wird drei Tage später, am 9. September, unter seinem Chefdirigenten Vladimir Jurowski mit Johannes Brahms’ „Tragischer Ouvertüre“, Arnold Schönbergs „Vier Liedern“ und John Adams’ „Harmonielehre“ die eigene Saison eröffnen. Den Gesangspart übernimmt die Mezzosopranistin Christina Bock.
Der RIAS Kammerchor feiert am 18. September unter der Leitung von Łukasz Borowicz mit frühen Werken Anton Bruckners dessen zweihundertsten Geburtstag. Der Rundfunkchor und sein Chefdirigent Gijs Leenaars indes zelebrieren am 2. Oktober mit dem dreißigjährigen Jubiläum der ROC zugleich auch das hundertjährige Bestehen des Ensembles. Und zwar im Heimathafen Neukölln. Ein bunt gemischtes Programm, das von Felix Mendelssohns Choralvertonung „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ über Psalmvertonungen von Charles Ives bis hin zu Liedern mit Klavierbegleitung von Lili Boulanger und Amy Beach sowie zeitgenössischen Werken reicht, stellt die Frage nach dem „Chor der Zukunft“. Zu Gast ist neben dem Pianisten Philip Mayers auch die türkische Sängerin, Bağlama-Spielerin und Multiinstrumentalistin Derya Yıldırım.
„Die vier Ensembles zeichnet etwas ganz Besonderes aus: die Direktheit und die Nähe zu den Menschen der Stadt“, bringt es ROC-Geschäftsführer Anselm Rose auf den Punkt. „Wir erreichen immer mehr Menschen mit unserer Musik – schon mehr als vor der Pandemie – mit Live-Konzerten, Radioübertragungen, Rundfunksendungen, auf Tonträgern und on demand im Internet. Und diese Reichweite entwickeln wir weiter. Denn wir verstehen uns als Medienensembles, die exzellente Musik für alle machen, die immer verfügbar ist.“
Aufmacherbild: © Fabian Schellhorn