Mit Handschuhen am Klavier: Ralf Schmid und sein Projekt PYANOOK
Einer der aktuellen Trendsetter auf dem Gebiet des kinetischen Musizierens bzw. Komponierens ist Ralf Schmid. Das musikalische Multitalent sorgt derzeit mit seinem futuristischen Piano-Electro-Projekt PYANOOK auf nationalen wie internationalen Bühnen für Furore. Bei seinen Auftritten sitzt Schmid zwischen zwei verkabelten Konzertflügeln, auf denen er simultan spielt. Die schwarzen, kuppenlosen Handschuhe, die er dabei trägt und die schon beinah zu seinem Markenzeichen geworden sind, sind das Kernwerkzeug seines kinetischen Musizierens. Mit ihnen verwebt er akustische und elektronische Klänge im Flow des Klavierspiels: „Mit den Datenhandschuhen steuere ich den Klang über Bewegung: Mit kleinen Finger- oder raumgreifenden Arm- oder Handbewegungen ‚dirigiere‘ ich die Elektronik live, ohne dabei Computer, Fader, Knöpfe etc. berühren zu müssen – ich kann gleichzeitig Pianist, Laptop-Artist, Dirigent, Komponist und Improvisator sein“, erklärt Schmid.
Die Handschuhe sind sogenannte „MI:MU Gloves“, die 2010 in England entwickelt wurden. Mithilfe einer speziellen Software lassen sich für jede noch so kleine Bewegung und jede Position der Hände Klänge oder Klangeffekte programmieren. Die Möglichkeiten der Klangerzeugung sind damit nahezu unbegrenzt und absolut individuell. Der Kostenpunkt für das neuartige Instrument liegt bei schlappen 1.250 britischen Pfund – pro Handschuh. Einige bekannte Musiker vor allem im Pop-Bereich, wie Sängerin Ariana Grande, nutzen diese Technik bereits bei ihren Live-Konzerten. Die Art und Weise, in der Ralf Schmid die MI.MU Gloves verwendet, ist jedoch bisher einzigartig: „PYANOOK, mein bei einem Artist-in-Residence-Aufenthalt in Norwegen 2016 entwickeltes Klavier-Cockpit, ermöglicht es mir, mithilfe der Handschuhe auf und über den Tasten mit neuen Klavierklängen Musik zu erfinden und zu performen.“
Freischwebende Klangerzeugung schon vor hundert Jahren
So ganz neu ist die Idee der Transformation von physischer Bewegung in Musik allerdings nicht. Die Geschichte des kinetischen Musizierens reicht immerhin ziemlich genau einhundert Jahre zurück. 1920 erfindet der Russe Lew Termen (nach seiner Emigration in die USA nennt er sich Leon Theremin) das erste Instrument, das gänzlich ohne Berührung, nur durch Bewegung mittels der elektrischen Kapazität des menschlichen Körpers gespielt wird. Das Theremin sorgte seinerzeit für großes Aufsehen. Es konnte sich aber nie wirklich aus dem Nischendasein befreien, denn die Komponisten der Zeit wussten das Instrument nicht recht einzusetzen. Vorwiegend wurde es zum Vortrag von klassischem Geigen- oder Cellorepertoire genutzt, später fand es wegen seines sphärischen, extraterrestrischen Klangs häufiger Gebrauch in der Filmmusik. Dennoch wurde das Theremin ständig weiterentwickelt und verbessert. 1965 verwendete John Cage in seiner Komposition „Variation V“ spezielle Theremine. Sie wurden von Tänzern auf der Bühne bedient, die durch ihre Tanzbewegungen die Aussteuerung von Tonbandgeräten im Orchestergraben regelten. Auch heute sind wieder Thereministen wie die Sorbin Carolina Eyck solo oder in Begleitung von Orchestern auf den Konzertbühnen zu erleben.
Doch die Erfindung des Theremins war erst der Anfang. Viele Avantgardisten und Anhänger der elektronischen Musikszene experimentierten mit dem Gedanken der kinetisch produzierten Musik. So entstanden zahlreiche neue Instrumente mit allerhand Varianten der kinetischen Klangerzeugung wie z. B. das Terpsiton, das mit dem ganzen Körper gespielt wird, oder die Chimaera, deren Tonerzeugung auf der Messung von Magnetfeldern basiert und die auch polyfon gespielt werden kann.
Wenn der Tanz den Ton angibt
Heutzutage sind es vor allem die neuartigen optischen Techniken der Gestenerkennung, die für einen futuristischen Hype in der Musik sorgen. Dass Computer mittlerweile in der Lage sind, menschliche Gesten und Bewegungen zu erkennen, hat auch große Einwirkung auf die Entwicklung des Musiklebens. Das Forschungsprojekt „Motion Bank“ der Mainzer Hochschule beispielsweise arbeitet zurzeit an der visuellen Digitalisierung und damit Konservierung zeitgenössischer Tanzchoreografien. Andere gehen noch weiter und nutzen die digitale Gestenerkennung in Verbindung mit Musik bereits für kommerzielle Zwecke: Mit der interaktiven Musiksoftware Nagual Dance sollen auch Laien ganze Musikstücke komponieren können – allein durch ihre Bewegungen. Jedem Körperteil wird dabei eine vorprogrammierte Instrumentengruppe zugeteilt. Eine 3D-Kamera erfasst dann die jeweiligen Tanzbewegungen und übersetzt sie in die musikalischen Parameter Tempo, Dynamik und Tonhöhe. Sicherlich eine spaßige Angelegenheit, vor allem beim Tanz zu zweit oder in der Gruppe. Da die Soundsequenzen jedoch bereits vorgegeben und so programmiert sind, dass es keine Disharmonien geben kann, sind der kompositorischen Freiheit enge Grenzen gesetzt.
Verheißungsvolle Zukunft
Eine viel größere Freiheit genießt Ralf Schmid beim Komponieren im dreidimensionalen Raum mit seinen MI.MU Gloves: „Durch die Verbindung von Klangerzeugung und Bewegung ist die Interaktion zwischen Mensch und Maschine durch und durch organisch, sie birgt ihre ganz eigene Art digitaler Poesie und unendlich viele neue Möglichkeiten“, schwärmt der gebürtige Konstanzer. Zurzeit steckt diese Art der Instrumentaltechnik noch in den Kinderschuhen, doch sie könnte schon bald ein fester Bestandteil im Bereich der Neuen Musik werden, wenn es weiterhin Künstler wie Ralf Schmid gibt, die sich trauen, mit solch innovativen Konzepten zu experimentieren: „Ich gehe davon aus, dass sich dieser Ansatz des kinetischen Musizierens weiterentwickelt und verbreitet und in Zukunft viel spannende Musik hervorbringen wird!“
Aufmacherbild: Gregor Hohenberg