Der im letzten Jahr unter Pandemiebedingungen gefeierte 250. Geburtstag des Bonner Komponisten hat die Deutsche Telekom AG und ihren Vorstandsvorsitzenden Tim Höttges dazu veranlasst, ein neuartiges Experiment zu initiieren, um eben jenem Rätsel auf den Grund zu gehen: Die zehnte Sinfonie (genauer: der dritte und vierte Satz) sollten vollendet werden, mithilfe eines qualifizierten Teams und künstlicher Intelligenz (KI), auch artifizielle Intelligenz genannt (AI). Federführend bei diesem Projekt war neben MagentaTV-Chef Michael Schuld vor allem auch Musikwissenschaftsexperte Matthias Röder, Leiter des Karajan-Instituts sowie Managing Partner von The Mindshift, einer Institution, die sich dem Ausloten neuer (technischer) Möglichkeiten an der Schnittstelle von Musik, Kunst und Technologie verschrieben hat. Gemeinsam mit Musikinformatikern, Computerwissenschaftlern, Programmierern und Komponisten stellten sie sich der Herausforderung, den Beethoven’schen Kompositionsgeist künstlich wiederzuerwecken.
„Kreativität ist Wahl“
Die KI wurde gefüttert mit dem vorhandenen Skizzenmaterial der Zehnten sowie mit anderen Kompositionen Beethovens, ebenso mit Werken, die ihrerzeit dem Maestro in seinem Schaffen beeinflusst haben mögen. Auf dieser Grundlage errechnete und entwickelte die KI automatisch zahlreiche Melodien, Variationen, Motiv- und Themenfortführungen. Die Auswahl dieser von der Maschine vorgeschlagenen Themenvariationen, die Dramaturgie der Sätze und die größere musikalische Form wollte man dann allerdings doch nicht allein dem maschinellen Gehirn überlassen. Um den musikwissenschaftlich fundierten, aber emotionslosen Vorschlägen der KI künstlerische Tiefe und Lebendigkeit einzuhauchen, wurde der Komponist und Musikproduzent Walter Werzowa ins Team geholt: „Kreativität ist Wahl“, erzählt der Österreicher. „Ich stelle mir vor, dass Beethoven hunderte Melodien für seine zehnte Sinfonie im Kopf gehabt hat. Er wählte dann die richtigen aus und diese hat er weitergesponnen. Für mich war der Prozess ähnlich: Ich habe aberhunderte Möglichkeiten von der KI bekommen, habe alle durchgelesen und angehört, schließlich ausgesiebt und entschieden, welche im Zusammenhang funktionieren könnten und welche nicht.“
Hang zur Spiritualität
Der dritte und vierte Satz der zehnten Sinfonie, die nach diesem Prozedere auf Basis von Beethovens wenigen handschriftlich skizzierten Originaltakten entstanden sind, wurden bereits vom Beethoven Orchester Bonn unter der Leitung von Dirk Kaftan aufgenommen. Endlich – nach einem Jahr coronabedingter Verschiebung – feiert das Orchester nun am 9. Oktober im Telekom-Forum in Beethovens Geburtsstadt Bonn ihre Uraufführung und bilden somit das Ergebnis einer einmaligen kreativen Symbiose von Mensch, Maschine und Musik. Neben Orchester und Dirigent ist auch Cameron Carpenter am Projekt beteiligt. Die Teilnahme des renommierten Orgelvirtuosen rührt daher, dass die Sinfonie vom Team auf bestimmtes Verständnis ausgelegt wurde: „In den Skizzen zur zehnten Sinfonie befasst sich Beethoven mit dem Gedanken der Spiritualität“, sagt Projektleiter Matthias Röder und erklärt weiter: „Er möchte den Choral ‚Herrgott dich loben wir’ vertonen, und zwar in alten Kirchentonarten. In den Notizen offenbart sich zudem ein sehr nach innen gewandter Komponist, ganz im Gegensatz zur weltumfassenden Sicht, die in der neunten Sinfonie ihren Ausdruck findet. Vielleicht auch, weil er sich mit seinem eigenen Ende konfrontiert sieht, ist er introspektiv. In diesem Sinne ist es sicherlich erlaubt, die zehnte Sinfonie als Kehrseite oder Kontrast zur neunten zu begreifen.“
Momentaufnahme der Möglichkeiten
Auch Komponist Werzowa hat dazu ein deutliches Bild vor Augen: „Ich habe mir Beethoven vorgestellt, wie er taub durch Wien spazierend am Stephansdom vorbeikommt – die dortige Orgel war damals das größte Instrument Europas. Man spürt sie im Vorbeigehen. Man hört sie gar nicht, man spürt sie. Vielleicht hätte das ein Impuls sein können, nach der Neunten mit dem Chor diesmal ein neues Instrument mit hineinzunehmen. Damals wäre es die erste Orgelsinfonie gewesen.“
Obwohl das Ergebnis des Experiments erstaunlich plausibel klingt, die KI-gesteuerten Themenverarbeitungen dem Stil der Beethoven’schen Tonsprache sehr nahekommen, war es niemals Ziel des Projekts, einen Anspruch auf die „echte“ zehnte Sinfonie zu erheben, wie Beethoven sie möglicherweise geschrieben hätte. Es bleibt ein Versuch und eine Momentaufnahme, die den Stand der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine von heute wiedergibt. Eine kompositorische Hegemonie der künstlichen Intelligenz ist übrigens vorerst nicht zu befürchten: „Es ist in allen Phasen Mensch drin, die KI kann den Menschen nicht ersetzen“, beteuert Werzowa. „Aber vielleicht können wir mit den Möglichkeiten der KI helfen, dass sich mehr Menschen wagen, kreativ zu sein. Ich glaube, dass die Welt runder und besser wird, wenn wir alle ein bisschen kreativer werden dürfen und können.“ Dem hätte Beethoven bestimmt nicht widersprochen.
Die Uraufführung von Beethoven X – The AI Project findet am 9. Oktober 2021 im Telekom Forum Bonn statt und wird live auf Magenta-TV übertragen. Hier geht’s zum Livestream!
CD-Tipp:
Beethoven X – The AI Project
Cameron Carpenter (Orgel) Beethoven Orchester Bonn, Dirk Kaftan (Leitung)
Modern Recordings (Warner)
Aufmacherbild: © Deutsche Telekom AG