Müssen es wirklich immer fünf Linien mit schwarzen Punkten sein? Viele Menschen denken, eine unentbehrliche Voraussetzung für die Musikpraxis sei das grafische Notenbild, denn es ist weitgehend unbekannt, dass es auch eine Notenschrift für Blinde gibt. Begegnungen mit blinden Künstlerinnen und Künstlern zeigen, dass man Musik auch tastend in ihrer Substanz erkunden kann. Eine Institution in Leipzig leistet hier vorbildliche Arbeit.

Doch beginnen wir von vorne. Die sogenannte Braillenotenschrift wurde bereits 1828 von Louis Braille geprägt und basiert auf dem bekannteren, nach ihm benannten Blindenschriftsystem, das er bis 1825 entwickelte. Im Alter von nur sechzehn Jahren hatte der selbst als Kleinkind nach einem Unfall erblindete Franzose ein an der Blindenschule von Valentin Haüy gelehrtes Schreibsystem und die für militärische Zwecke entwickelte Nachtschrift miteinander kombiniert. Das Ergebnis war eine praxistaugliche Vereinfachung der Vorgängermodelle. Heute wird weltweit nahezu ausschließlich sein Schriftsystem verwendet.

Wie bildet man eine Welt mit sechs Punkten ab?

Sein ganzes Leben war Braille von einer unbändigen Wissbegier inspiriert und lernte das Orgelspiel. Auf seine Musikbegeisterung ist zurückzuführen, dass er mit seiner Blindenschrift auch Noten notieren wollte. Mit der dafür umgesetzten Erweiterung des bereits geschaffenen Systems setzte er Maßstäbe, die für die Arbeitsmaterialien von blinden Musikerinnen und Musikern bis in die Gegenwart Geltung beanspruchen.

Gundlagen der der Braille-Notenschrift. Weitere Codes gibt es für alle anderen üblichen Spielanweisungen (Pausen, Akkorde, Dynamik etc.)
Nur sechs Punkte müssen alle Informationen eines Notentextes codieren. Neben den hier abgebildeten Grundlagen der Braillenotenschrift gibt es weitere Codes für alle anderen üblichen Spielanweisungen wie Pausen, Akkorde, Dynamik etc.

Nun ist es so, dass die Brailleschrift auf nur sechs Punkten beruht, für die es 64 Kombinationsmöglichkeiten gibt. Diese Begrenzung macht es notwendig, doppelte und gelegentlich auch dreifache Bedeutungsfunktionen auf ein Zeichen zu legen. Denn die Punkte müssen bei der Musiknotation alles darstellen, inklusive Tonhöhe und -länge. Da wundert es nicht, dass die Braillenotenschrift keineswegs unumstritten ist, viele die Notation als zu kompliziert empfinden. Auch weil sich pro Zeile nur einstimmige Notenfolgen notieren lassen und beispielsweise bei Kunstliedern der vertonte Text separat steht, sind manche Betroffene unzufrieden.

Norbert Britze rettet eine Orgel

Kantor Norbert Britze hebt indessen hervor, wie viel mit Improvisationsfreude möglich ist. Der in Bad Düben tätige Musiker erzählt: „Die Orgel ist das einzige Instrument, das man eingeschränkt spielen und gleichzeitig Noten lesen kann. Wenn ich, was gelegentlich vorkommt, ein Lied spielen muss, das mir recht unbekannt ist, beziehungsweise die Zeit zum Lernen nicht da war, dann spiele ich mit rechts drei Stimmen, die vierte im Pedal und lese mit links.“

Norbert Britze an der Rühlmannorgel der Stadtkirche Bad Düben
Kantor Norbert Britze an der Rühlmannorgel der Stadtkirche St. Nikolai Bad Düben in Sachsen. © Diethelm Runck

Im Gespräch mit ihm hat man zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, er sei in irgendeiner Weise eingeschränkt. Im Gegenteil, hat er doch als Vorsitzender des Fördervereins zur Instandsetzung der Evangelischen Lukaskirche zu Krippehna ein wertvolles Instrument vor dem Verfall bewahrt. Die Johann-Ernst-Hähnel-Orgel von 1771 erklingt seit der Wiedereinweihung im September 2018 in alter Pracht, nachdem sie wegen altersbedingter Schäden elf Jahre lang unspielbar gewesen war. Hier und in St. Nikolai Bad Düben veranstaltet Britze, der in der ehemaligen DDR blind geboren wurde, auch Konzertreihen, leitet drei Erwachsenen- sowie zwei Kinderchöre und musiziert mit dem Frauenensemble „Anima“.

„Mit der Braillenotenschrift ist man am unabhängisten“

Dank des von der Deutschen Zentralbibliothek für Blinde (DZB) in Leipzig bereitgestellten Notenmaterials hat Britze schon in früher Jugend seine musikalische Ausbildung beginnen können. Zur Zeit der Teilung habe es in Hannover noch einen kommerziellen Verlag gegeben, der für den Westen Braillenoten bereit stellte. „Mittlerweile ist in ganz Deutschland nur noch die DZB übrig geblieben“, sagt Britze.

Braille-Noten des „Te Deums“ von Antonín Dvořák
Musik zum Tasten: Braillenoten des „Te Deums“ von Antonín Dvořák © DZB

Dabei sei man nicht komplett auf das Material angewiesen: „Man kann sich Stücke auch taktweise in Zusammenarbeit mit Sehenden oder nach Gehör erarbeiten, aber wenn man die Braillenotenschrift beherrscht, ist man am unabhängigsten.“ Wenn er Ausgaben, die er braucht, doch einmal nicht über die DZB beziehen kann, erkundigt sich Britze in seinem Netzwerk sehbeeinträchtigter Künstlerinnen und Künstler, ob jemand die gesuchten Noten hat.

Vorteil der Überschaubarkeit

Einen gänzlich anderen Umgang mit der Braillenotenschrift prägt den Arbeitsalltag der in Nürnberg aufgewachsenen, blinden Sängerin Gerlinde Sämann. Ihr ist eine internationale Karriere geglückt, die sie unter anderem nach Zürich, St. Petersburg und Boston sowie in die Musikmetropolen Deutschlands und Europas führte. Auch hat sie beispielsweise mit Dorothee Mields unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann den „Schwanengesang“ von Heinrich Schütz aufgenommen. Und mit Sigiswald Kujiken hat Sämann Kantaten ihres Lieblingskomponisten Johann Sebastian Bach eingespielt. Dass die Musik in ihrem Leben eine allumfassende Rolle spielen würde, war ihr schon im Alter von vier Jahren klar. Sämann beschreibt das so: „Für mich hat die Welt immer geklungen, seit ich denken kann, ist das so.“

Portrait Gerlinde Sämann
Der blinden Sängerin Gerlinde Sämann ist eine internationale Karriere geglückt. © Severin Schweiger

Doch musste sie sich bis zu ihrem zehnten Geburtstag gedulden, um einen von der Blindenschrift ausgehenden Klavierunterricht wahrnehmen zu dürfen. Denn ihre Eltern wollten verhindern, dass sie rein über das Gehör lernt. „Die Blindennotenschrift ist ein sehr komplexes System, das mit begrenzten Möglichkeiten viel darstellen muss.“ Den Hauptunterschied zur gängigen Notenschrift sieht Sämann in deren Überschaubarkeit: „In der Schwarzschrift kann der Leser viele Dinge gleichzeitig aufnehmen, zum Beispiel eine komplette Partitur überblicken und seelenruhig seiner eigenen Stimmführung folgen. Wir Blinde haben immer nur das unter dem Finger, was gerade da ist oder maximal ein bis zwei Noten im Voraus.“

Die Arbeitstechnik von Gerlinde Sämann

Auch dass die Braillenotenschrift sehr viel Platz braucht, ist ein Nachteil, weshalb Sämann das System individuell modifiziert hat. Kurz und knapp erklärt sie: „Jedes Stück, mit dem ich arbeite, passe ich in der Darstellung an und lösche im Laufe der Beschäftigung so viele Zeichen wie möglich. Es geht mir dabei um eine Konzentration auf das Wesentliche und die fließende Lesbarkeit.“

Ganz nah dran an der Herstellung von Ausgaben in Braillenotenschrift ist der Bariton Lothar Littmann. Der heute 62-Jährige ist seit Jahrzehnten als freischaffender Sänger unterwegs; so sang er beispielsweise 1992 im Lübecker Dom die Christusworte in Bachs „Johannespassion“ und war im vergangenen Jahr in Hof Solist in der „Petite Messe solennelle“ von Rossini. Nach wie vor ist er als Oratoriensänger aktiv und wirkt im Februar in seiner Heimatstadt Oldenburg bei einer Aufführung von Choralkantaten von Mendelssohn mit. Zugleich ist er der einzige blinde Musiker, der für die DZB an der Übertragung von graphischen Noten in die Brailleschrift arbeitet.

Lothar Littmann singt in einer Kirche, begleitet von drei Instrumentalisten © Manuela Wittl
Der Bariton Lothar Littmann, hier bei Proben in der St. Petrikirche Westersted, ist als Oratoriensänger tätig. © privat

Das Projekt „DaCapo“

In Zusammenarbeit mit dem Musikwissenschaftler Dr. Felix Purtov macht Littmann die Korrekturen von Notentexten, die in Leipzig im Rahmen des Projektes „DaCapo“ mit dem Programm „Hodder“ automatisiert erstellt werden. Hodder wurde 2005 eigens von Matthias Leopold entwickelt. Auch Littmann erzählt von der problematischen Situation nach der Wende: „Nachdem keine Verlage mehr für den Notendruck in Blindenschrift existierten, wurde DaCapo ins Leben gerufen, um überhaupt wieder ein Angebot zu schaffen.“ In Folge des Produktionsstops war der Name „DaCapo“ ganz wörtlich zu nehmen. „Wir mussten wirklich wieder von vorne anfangen“, erinnert sich Littmann.

Heute können sie sich bei der DZB vor Arbeit nicht retten. Das bereits 1894 gegründete Institut ist ein Staatsbetrieb des Landes Sachsen, hat ein eigenes Tonstudio, eine Druckerei und eine Buchbinderei. In den Werkstätten werden Bücher und Zeitschriften in Brailleschrift hergestellt, außerdem Reliefs und Hörbücher. In seinem Katalog führt es über 6.500 Titel in Braillenotenschrift und es werden immer mehr. Vor allem Werke für Klavier und Orgel werden bestellt, aber auch Solo- und Chorgesang ist gefragt. Littmann hält fest: „Letztlich sind die Instrumente, die Blinde spielen, aber natürlich so breit gestreut wie bei Sehenden.“ Und solange es sich wie bei Melodieinstrumenten um einstimmige Noten handle, sei die Braillenotenschrift seiner Meinung nach auch nicht kompliziert.

Eingang der Deutschen Zentralbibliothek für Blinde in Leipzig
Ein Haus, das viele Schätze birgt: Der Eingang der Deutschen Zentralbibliothek für Blinde in Leipzig © DZB

Der Vertrag von Marrakesch

Der Jahreswechsel hat die DZB vor einige neue Herausforderungen gestellt, wie Pressereferent Ronald Krause erklärt: „Zum 1. Januar ist eine Änderung des deutschen Urheberrechtsgesetz in Kraft getreten, mit der der Vertrag von Marrakesch umgesetzt wird.“ Dieser internationale Vertrag stärkt die Rechte von Menschen, die Gedrucktes schlecht oder gar nicht lesen können. „Das bedeutet, dass wir künftig nicht nur deutliche erweiterte Angebote für Menschen machen können, die blind oder sehbehindert sind.“

Auch Legastheniker und Menschen, die nicht in der Lage sind, ein Buch zu halten, können nun von der DZB profitieren, weshalb mit einer deutlich steigenden Nachfrage zu rechnen ist. Um dem nachzukommen, ist auch eine verstärkte internationale Vernetzung gefragt. Das bringt den Vorteil, dass Noten, die beispielsweise in England bereits in Braillenotenschrift übertragen wurden, als Daten von dort bezogen und in Leipzig für Nutzer verarbeitet werden können. Krause sagt:  „Das ist erst jetzt rechtlich möglich und eröffnet in jedem Bereich der Brailleliteratur wichtige neue Quellen, um der Büchernot zu begegnen.“

Die Freunde der DZB

Als Staatsbetrieb arbeitet die DZB maßgeblich mit Mitteln des zuständigen Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst. Auch weil in der alternden Gesellschaft Deutschlands der Anteil sehbeeinträchtigter Menschen stetig steigt, würde sich Krause aber eine finanzielle Beteiligung des Bundes wünschen, die derzeit nicht in Aussicht steht. „Wenn es um größere Investitionen geht, ist die Unterstützung des Fördervereins ,Freunde der DZB‘ sehr gefragt“, sagt Krause. Dieser hat seit der Gründung im Jahr 2004 glücklicherweise schon viel ermöglicht und beispielsweise zahlreiche Spenden für Buchpatenschaften gesammelt. Seit 2018 ist dieses Modell auf Braillenoten erweitert worden.

Von einer weiteren Aktion berichtet Ludwig Henne, der bei den Freunden der DZB Fundraising-Projekte organisiert: „Letztes Jahr haben wir gemeinsam mit einem Leipziger Lions Club ein Benefizkonzert der Sängerin Gerlinde Sämann organisiert und dabei 5.000 Euro gesammelt. Damit haben wir eine Übertragung der weltlichen Chorwerke von Felix Mendelssohn finanziert.“ Mit seiner Arbeit unterstützt der Verein Menschen mit Sehbeeinträchtigung, ihre Talente zu entfalten.

"Aria" aus Bachs Goldberg-Variataionen im Originaldurck von 1741 (oben), in modernem Notendruckbild (mitte) und in Braille-Notenschrift (unten)
Ein Beispiel: Die „Aria“ aus Bachs „Goldberg-Variationen“ im Originaldruck von 1741 (oben), in modernem Notendruckbild (mitte) und in Braillenotenschrift (unten). © gemeinfrei

Ein Planet im Musikuniversum

Ein wichtiges Engagement, denn es bleibt nach wie vor viel zu leisten, sind doch die bislang übertragenen Werke nur ein winziger Planet im Musikuniversum. So scheinen die 6.500 verfügbaren Werke eine große Auswahl zu bieten. Bedenkt man jedoch, dass allein von Johann Sebastian Bach mehr als 1.100 Kompositionen überliefert sind, werden die Relationen deutlicher. Die Möglichkeiten der Braillenotenschrift sind noch lange nicht ausgeschöpft.

 

Aufmacherbild: © DZB