Selbst wenn sie den Text gar nicht verstehen, lernen hunderttausende Japaner das Schiller-Gedicht „An die Freude“ auswendig, das Beethoven im Schlusssatz für vierstimmigen Chor vertonte. 1985 übernahm die Europäische Gemeinschaft diese Passage für ihre Europahymne. Um zu verstehen, warum ausgerechnet in Japan seit Jahrzehnten eine „Neunte-Manie“ herrscht, genügt ein Blick in die japanische Seele und in die jüngere Geschichte des Landes. Die Bewohner des Inselstaats lieben es nämlich, zu singen – Stichwort „Karaoke“. Außerdem zählt für die meisten Japaner die Gruppe mehr als der Einzelne, was man jährlich am ersten Dezember-Sonntag in der Symphony Hall von Osaka erleben kann: Dort findet seit 1983 eine Aufführung der Sinfonie namens Suntory 10000-nin no Dai-9 (サントリー10000人の第9) statt, bei der 10.000 Laiensänger den Chor unterstützen.
Erstaufführung im Kriegsgefangenenlager
Zum japanischen Importprodukt wurde der Chorsatz bereits zwischen 1917 und 1919, als rund tausend deutsche Kriegsgefangene vom chinesischen Tsingtau nach ins japanische Kriegsgefangenenlager Bandō gebracht wurden. Dieses Lager fasziniert bis heute, da es von den üblichen Vorstellungen komplett abweicht. Zuweilen wurde es sogar als „märchenhaftes Heldenheim, wo Milch und Honig fließen“ bezeichnet. Eine große Zahl der Gefangenen hatte ein überdurchschnittliches Bildungsinteresse, was zu einem regen kulturellen Lagerleben führte mit täglichen Vorträgen, Schachturnieren, Lesungen oder Sprachkursen.
Im Laufe der Zeit sind auch fünf Orchester entstanden, und am 1. Juni 1918 war es soweit: Die komplette Neunte wurde durch den Chor und das 40 Mann starke Orchester des deutschen Kriegsgefangenenlagers aufgeführt – wenn auch mit transkribierten Frauenstimmen. Damit erlebte das Werk nicht nur in Japan, sondern in ganz Asien seine Erstaufführung. Noch heute pflegt die Stadt Naruto, in deren Umgebung sich das Kriegsgefangenenlager befand, dieses kulturelle Erbe im „Deutschen Haus“. Zudem ist der erste Junisonntag zum „Tag der Neunten“ erklärt worden, an dem die Ode „An die Freude“ erklingt – ausnahmsweise nicht im Dezember.
Dass Beethoven sich ausgerechnet in einer Zeit der politischen Restauration entschloss, seine Neunte mit einem Chorgesang mit Schillers Text enden zu lassen, bewertet Aribert Reimann folgendermaßen: „Nach all dem politischen Wirrwarr und den Schrecknissen der Zeit, die auch Beethoven selbst erlebt hat, ist dieses Werk am Ende ein Appell, eine Sehnsucht nach Verbrüderung, nach Freude und Jubel, nach der Utopie eines Weltfriedens, nach einer Welt ohne Kriege und Zerstörung.“ Kann man da noch von Zufall sprechen, dass ausgerechnet Artikel 9 in der derzeitigen japanischen Verfassung von 1946 alle kriegerische Aktivitäten sowie den Unterhalt von Streitkräften verbietet?
Aufmacherbild: Hotaka Matsumura/WDR