Zum 90-jährigen Jubiläum des Richard Wagner Verbands Minden also gelangte hier erstmals „Der fliegende Holländer“ zur Aufführung – fraglos war Wagners Romantische Oper noch das handlichste Opus des in ganz eigenen, alle Grenzen sprengenden Dimensionen denkenden Gesamtkunstwerkers. Das mit seinen 535 Sitzplätzen eher beschauliche, zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaute neobarocke Stadttheater Minden, das selbst über kein eigenes künstlerisches Ensemble verfügt, erscheint schließlich auf den ersten Blick kaum prädestiniert für die riesigen Ausmaße, die der Komponist für die Besetzung von Orchester und Chor einst forderte. Die hiesige „Holländer“-Premiere freilich wurde bald gar von den renommiertesten Feuilletons der Republik als „Wagner-Wunder von Minden“ gepriesen. Und die (zunächst gar nicht geplante) Fortsetzung von Inszenierungen der zehn Bayreuther Meisterwerke wurde alsbald zum Mindener Modell erklärt, das sich so erfrischend wie erkenntnisfördernd von der Aufführungspraxis des Spätromantikers unterscheidet, wie sie üblicherweise an den großen Opernhäusern von Berlin oder Wien, von Hamburg oder München stattfindet.
Wagner wird in Minden zum persönlichen Kammerspiel
Frank Beermann, der bislang alle Produktionen vom „Lohengrin“ und „Tannhäuser“ bis zu „Tristan und Isolde“ und dem kompletten Zyklus von „Der Ring des Nibelungen“ musikalisch geleitet hat, erklärt den Unterschied, den er als international gefragter Wagnerdirigent sehr genau kennt. Das Orchester sitzt nicht im (hier räumlich viel zu begrenzten) Graben, sondern ist direkt auf der Bühne positioniert. Die Sänger agieren davor und somit in direktem Kontakt mit dem Publikum, das in den ersten Parkettreihen gleichsam den Atem der Protagonisten spüren kann. Wagner werde persönlich, sein Werk zum Kammerspiel, so Beermann: „Unsere Sänger stehen nie unter Druck, forcieren zu müssen, da es keinerlei Überpräsenz des Orchesters gibt. Die akustische Balance ermöglicht einen geradezu kammermusikalischen Zugang, der wiederum in deutlich mehr Textverständnis resultiert, als man das bei Wagner gewohnt ist. Die Sänger können wirklich Piani und Pianissimi wagen.“
Auch in Tempofragen – die im Schwanengesang „Parsifal“ mitunter voller heiligem Eifer ausgetragen werden: soll man die Partitur zelebrieren oder zuspitzen? – ergeben sich für Frank Beermann in Minden sehr willkommene Möglichkeiten, einem nachvollziehbaren, normalen Erzählfluss zu folgen, sich also mit dem Gesang dem gesprochenen Wort anzunähern. Zumal der epischen Partie des Gurnemanz, der im oratorisch angelegten „Parsifal“ eine dem Evangelisten in den Bach-Passionen vergleichbare Funktion erhält, komme dieser Zugriff zugute, führt Beermann aus, der sich vor der Premiere am 8. September begeistert von seinem jungen Ensemble zeigt, das fast ausschließlich aus Rollendebütanten besteht. So wird der aufstrebende belgische Bass Tijl Faveyts in Minden erstmals die langen Erzählungen des Gurnemanz gestalten und die Figur so vom Nimbus des Altväterlichen befreien. Und der finnische Tenor Jussi Myllys komme dem Ideal des reinen Toren als wirklich jugendlicher Parsifal einmal ausdrücklich nahe, so der Dirigent, der im Gespräch einfließen lässt, dass hier in Minden schließlich ein gewisser Andreas Schager seinen ersten Tristan gesungen habe. Heute ist der Heldentenor darin weltweit an den bedeutendsten Häusern die erste Wahl.
Auch weniger opernaffine Zuschauer finden Zugang zu Wagner
Wichtig ist es Beermann, in Minden jenseits der Pfade der interpretatorischen Tradition zu wandeln, was sich gerade auch in seiner Arbeit mit dem Orchester zeige. Die Nordwestdeutsche Philharmonie, die von Anfang an das Mindener Modell der Wagner-Lesart mitgestaltet, spiele als ein klassisches Konzertorchester sonst keine Opern, steht ihm dafür in allen Proben und Aufführungen mit einer festen (und keineswegs raumbedingt verkleinerten) Besetzung zur Verfügung. „Die Nordwestdeutsche Philharmonie ist ein sehr junges Orchester und sehr schnell in der Umsetzung: Wenn wir Details in Artikulation und Phrasierung erarbeiten, dann sind diese auch noch in der letzten Vorstellung abrufbar.“ Der gemeinsame Arbeitsprozess über nun zwei Jahrzehnte zahle sich enorm aus, betont der Maestro, der ebenso angetan von der Regiearbeit des Franzosen Erik Vigié ist. Beim Intendanten der Opera de Lausanne entstehe viel durch einprägsame starke Bilder, die auch auf den Gazevorhang projiziert würden, der das hinten positionierte Orchester von der Spielfläche der Sänger vorn auf der Bühne trennt. Beermann hebt hervor, dass in Minden trotz der räumlichen Limits wichtige Regisseure inszenierten, und erinnert an die Deutungen des „Tannhäuser“ von Keith Warner, des „Lohengrin“ von John Dew oder des „Ring“ von Gerd Heinz.
Überhaupt schätzt Beermann das kollegial gemeinschaftliche Arbeiten auf Augenhöhe, das nicht zuletzt den entscheidenden und für Projekte dieser Größenordnung durchaus ungewöhnlichen Partner einbezieht: den Richard Wagner Verband Minden e.V., der neben der Nordwestdeutschen Philharmonie und des Stadttheaters Minden die Inszenierungen produziert und finanziell stemmt. Der Verband unter Federführung seiner Vorsitzenden Jutta Hering-Winckler trage die wirtschaftliche Hauptlast, werbe die nötigen privaten Gelder als Drittmittel aus der Wirtschaft ein und trage das Projekt in die ganze Stadt hinein, die sich mit „ihrem“ Wagner enorm identifiziere. So kämen dann auch Menschen in die Vorstellungen, die sonst gar nicht genuin opernaffin seien, aber durch das Mindener Modell ihren Zugang zu Wagner fänden. Eine ganze Vorstellung ist zudem exklusiv Schulklassen der Stadt vorbehalten.
Aufmacherbild: © Christian Becker